Sandra Kreil
Wenn wir über Feminismus und Frauenbewegungen in Europa sprechen, erinnern wir uns an berühmte, kämpferische Frauen, wie Olympe de Gouges, Mary Wollstonecraft und Emmeline Pankhurst, Clara Zetkin und Rosa Luxemburg, Emma Goldman und Alexandra Kollontai, die Muijeres Libres und die Frauenbewegung der 70‘er, an Frauen wie Helke Sander und Ulrike Meinhof sowie viele tausende Frauen die frauenbewegt ihre Stimme gegen patriarchale Herrschaftsstrukturen vereinten. Politische Mitwirkung und das Wahlrecht, das Recht auf Bildung und Berufsausübung, Selbstbestimmung über den eigenen Körper und die Sexualität, für ein gewaltfreies Leben in der Familie und im öffentlichen Leben – waren Themen und Rechte, für die Frauen in den letzten 200 Jahren kämpften und sich organisierten.
Weniger bekannt ist, dass es auch im Mittelalter starke Frauen und Frauenbewegungen in Europa gegeben hatte. In Geschichtsbüchern kommen sie nicht vor. Die Beginen (Beguines) ist eine Bewegung, die im 12. Jahrhundert entsteht. Auch wenn sie sich selbst vielleicht nicht als Frauenbewegung bezeichnet hätten, so sprechen wir von Frauen, die ihren Lebensalltag und ihre Bedürfnisse kollektiv und eigenständig (autonom) organisieren. In ihrer Zeit setzten sie selbstbestimmt ihre religiösen, ökonomischen, gesundheitlichen und gesellschaftlichen Interessen um. Sie haben ihre Ideen über viele Regionen Mitteleuropas (heute: Niederlande, Belgien, Frankreich, Spanien, Deutschland, Polen und weitere) verbreitet und waren über mehrere Jahrhunderte eine Bewegung und Alternative gegen vorherrschende patriarchale Herrschaftsstrukturen und frauenfeindliche gesellschaftliche Traditionen.
Frauen im späten Mittelalter
Das späte Mittelalter war in Europa einer Zeit gesellschaftlicher Umbrüche. Es begann die Entwicklung der Städte. Der bis dahin noch gängige Warenhandel verschwand immer mehr und der Geldhandel setzte sich durch. Die Leibeigenschaft brach auf und neben dem Adel, der Bauernschaft, den Zünften und einem entstehenden Bürgertum, entwickelte sich eine Klasse der Besitzlosen, Tagelöhner und Bettelorden. Die Pest sowie anhaltende Herrschaftskriege der europäischen Fürsten wie der 100 jährige Krieg waren mit ihren Folgen für die Gesellschaft und soziale Strukturen prägend.
Die Kirche hatte ihre allumfassende Macht als Institution noch nicht durchgesetzt. Es gab verschiedenste christliche Orden und Strömungen, deren Ursprünge sowohl regionalen naturphilosophischen Weltbildern als auch mittel-östlichen Bewegungen, wie den Manichäern und Mazdakiten ähnelten. Frauen waren in dieser Zeit noch ein wissender und aktiver Teil der Gesellschaft. Erst mit der Stärkung der Zünfte und des männlichen Bürgertums, dem Beginn der Inquisition und dem frauenfeindlichen Weltbild der Reformation wurden Frauen immer mehr aus dem gesellschaftlichen Leben in ein ihr zustehendes familiäres Gefängnis verdrängt.
Frauen hatten tatsächlich kein politisches Mitspracherecht und waren unter Vormundschaft ihres Vaters oder Ehemannes rechtlich nicht handlungsfähig. Im gesellschaftlichen und religiösen Leben waren sie jedoch selbstbestimmter als in der folgenden Epoche der Renaissance. Sie konnten sowohl im Handel als auch im Handwerk tätig sein. Sie waren Teil der Zünfte im Metall- und Holzhandwerk, in Bäckereien und Brauereien. Sie gründeten eigene Frauenzünfte sowie Werkstätten und bildeten aus. Sie waren Kauffrauen und Handelsreisende. Im religiösen Leben waren Frauen ebenso aktiv und anerkannt. Es gab einige bekannte weibliche Mystikerinnen dieser Zeit, Schriftstellerinnen und Illustratorinnen darunter z.B. Hildegard von Bingen, deren Werke bis in die heutige Zeit überdauern.
Besonders für adlige Frauen war das Leben fremdbestimmt. Ihnen war die Heirat vorbestimmt und eine Berufstätigkeit ausgeschlossen. Viele Frauen entschlossen sich in dieser Zeit, statt für eine arrangierte Ehe, für ein Leben im Kloster und wurden Nonne. Dort hatten sie Zugang zu Bildung konnten z.B. als Apothekerinnen wirken. Mit der Entscheidung zur Besitzlosigkeit und Askese waren sie auch ohne Ehe und Mutterschaft als Frauen gesellschaftlich anerkannt. Im 12. und 13. Jahrhundert begann die Kirche die Rechte der Frauenklöster zu beschneiden. Sie wurden dem männlichen Klerus untergeordnet, die theologische Lehre und öffentliche Wirkung wurden den Frauen verboten.
Religiöse und geistige Unabhängigkeit
Die Beginen-Bewegung entstand auf der Suche nach einem spirituellem Leben außerhalb der Klostermauern. Sie war damit auch eine Gemeinschaft, die sich gegen die Herrschaft und Kontrolle der patriarchalen Kirche auflehnte.
Schon 1140 wurde über Frauen die religiös in nicht kirchlichen Zusammenhängen agierten berichtet. In Lüttich (Belgien) gründeten sich erste Beginenhöfe und von dort aus wanderten besitzlose, predigende Beginen in Städte und Gemeinden in ganz Europa.
1216 erhielten sie vom Papst die Anerkennung als religiöse Laienwohngemeinschaft. Sie unterstanden jedoch keinem Orden und keiner kirchlichen Hierarchie. Sie organisierten sich selbst, und wählten ihre eigenen Vorsteherinnen. Sie lehrten und diskutierten theologisch und stellten die patriarchalen Strukturen in der Kirche in Frage. Sie übersetzten die Bibel und theologische Schriften in die Volkssprache und verfassten eigene Werke. Damit erhielt auch die Bevölkerung Zugang zu ihrem religiösem Wissen. Einige bekannte Mystikerinnen wie Mechthild von Magdeburg, Margarete von Porete und Juliana von Lüttich waren Beginen.
Auf ihrer mystischen Suche nach der Freiheit der Seelen schreiben sie z.B. über die Liebe zu Gott ohne die Institutionen der Kirche: „Wir brauchen die uns auferlegte, erzwungene Tugend nicht, wir sind aus uns selbst heraus liebende, reine Seelen.“, Kirche und Priester hielten sie für überflüssig. Margarete von Porete wird auf Grund ihrer Schrift “Spiegel der einfachen Seelen“ die erste Begine, die 1310 von der Inquisition verurteilt und ermordet wird.
Schutz vor häuslicher, öffentlicher und kirchlicher sexueller Gewalt und Unterdrückung
Eine der Grundprinzipien der Beginen war die Askese und die Entscheidung alleinstehend, nicht in Abhängigkeit von Männern in einer Gemeinschaft von Frauen zu Leben. Beginen trugen ebenso wie Nonnen ein Gewand, das diese Lebensweise öffentlich sichtbar machte und damit auch zur gesellschaftlichen Achtung der Frauen beitrug.Das häusliche und sexuelle Gewalt damals ebenso wie heute zum Alltag vieler Frauen gehörte, können wir annehmen. Übergriffe von Priestern gegenüber Nonnen waren durch Beschwerdebriefe belegt. Auch Beginen schrieben offen über sexuelle Gewalt von Priestern und klagten diese an. Rechtlich unmündig hatten sie keine Möglichkeit, gegen diese Gewalt vorzugehen. Die Frauen-Wohngemeinschaft der Beginen boten Schutz und waren Zufluchtsort für Frauen, die sich gegen eine Ehe und Familie in Gewalt und Unterdrückung entschieden. Die kollektive Solidarität und wirtschaftliche Unabhängigkeit bewahrte Frauen dabei auch vor einer gesellschaftlichen Ausgrenzung und ihren Folgen, wie z.B. Armut und Prostitution.
Wirtschaftliche Unabhängigkeit
Während insbesondere in der Anfangszeit der Beginen wandernde Beginen predigend und bettelnd ihren Unterhalt verdienten, entstehen in den Beginenhöfen eigene wirtschaftliche Strukturen. Zu den Prinzipien der Beginen gehörte es ebenso, das jede zum Lebensunterhalt mit beitrug, um wirtschaftlich selbständig zu sein. Frauen brachten ihren Besitz, ihre Vermögen und ihre Fähigkeiten in die Gemeinschaft mit ein. Sie arbeiteten innerhalb und außerhalb der Gemeinschaft, als Hebammen, Lehrerinnen, Weberinnen und Schreiberinnen, aber auch in Berufen, aus denen Frauen in den Zünften immer mehr verdrängt wurden. Sie waren Bäckerinnen, Dachdeckerinnen, Schmiedinnen, Wagnerinnen, betrieben Fähren und bestellten Gemüsegärten. Die Einnahmen flossen in die Gemeinschaft und wurden kollektiv verwaltet.
Kollektives Zusammenleben
Es gab keine gleichen Regeln in allen Beginenhöfen. Jede Region, jedes Haus stellte ihre eigenen Regeln und Prinzipien auf. Grundlegend war, das keine Begine ein Gelübde ablegte oder ihr Leben lang im Kollektiv bleiben musste, was aber viele taten. Sie konnten jederzeit austreten und z.B. heiraten oder bei Nichteinhaltung der Prinzipien dem Haus verwiesen werden. Es gab Reglungen zum kollektiven Wirtschaften und Zusammenleben ebenso wie zur Streitschlichtung. Die Vorsteherin wurde für ein oder zwei Jahre gewählt. Sie verwaltete das gemeinsame Vermögen und vertrat die Gemeinschaft nach außen. Beschlüsse wurden bei regelmäßigen Versammlungen gemeinsam getroffen. Das Haus durfte nicht ohne Erlaubnis von Männern betreten werden und Frauen sollten sich abmelden, wenn sie das Haus tagsüber verlassen.
Es gab große Konvente mit bis zu 60 Frauen ebenso wie kleine Häuser, in denen 5 Frauen gemeinsam lebten. Neben den wirtschaftlichen Tätigkeiten engagierten sich die Beginen sozial und waren aktiv in der Kranken- und Altenpflege, der Versorgung von Armen, der Sterbebegleitung und Trauerarbeit. Sie unterhielten Schulen und bildeten Kinder und junge Frauen aus.
Zerstörung und Vergessenheit
Auf Grund ihrer wirtschaftlichen und geistigen Unabhängigkeit wurden die Beginen von den männlichen patriarchalen Strukturen angefeindet und angegriffen. Die Kirche und ihre Institutionen versuchen immer wieder über Verbote die Handlungsfähigkeit der Beginen einzuschränken und sie zu kontrollieren. Trotzdem bleibt die Beginen-Bewegung stark und vergrößert sich bis ins 15. Jahrhundert. Hunderttausende Frauen sind zu dieser Zeit Teil der Beginen-Bewegung. Erst 1566 werden die Beginen durch Papst Pius V. grundsätzlich verboten. Ihre Häuser sollen geschlossen und ihr Besitz beschlagnahmt werden. In vielen Städten werden die wirtschaftlich aktiven Frauen zur Konkurrenz der männlich immer dominanter werden Zünfte. Frauen aus dem wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben zu verdrängen, wird zum Grund, dass viele Beginen als Ketzerinnen vor der Inquisition angeklagt und ermordet werden. Nicht zuletzt setzt sich mit der Reformation das lutherische Frauenbild gesellschaftlich durch: die Frau, die nur in Heim, am Herd und zur Zeugung von Kindern nutzt. Da wo sie wissend, unabhängig und selbstbewusst war, verlor sie an Ansehen. Alleinstehende Frauen wurden immer mehr geächtet und gesellschaftlich ausgegrenzt.
Die Zahl der Beginen-Höfe ging zurück, Konvente wurden niedergebrannt, geschlossen oder retteten sich, durch die Umwandlung in Klöster. In den Niederlanden wurd das Zusammenleben von alleinstehenden Frauen generell verboten. Belgien blieb eine Ausnahme. Dort organisierten sich Beginen-Höfe innerhalb der Kirche und blieben deshalb bis ins 20. Jahrhundert bestehen. In Kortjik lebte bis 1981 die letzte europäische Begine. Doch zu dieser Zeit wussten die wenigsten, dass Beginen ursprünglich eine Bewegung von Frauen war, die sich für die geistige und wirtschaftlich Selbstbestimmung von Frauen einsetzten und gemeinschaftliche Lebensmodelle entwickelten, unabhängig von Kirche, Herrschaft und Patriarchat.
Dank feministischer Bewegungen und geschlechter-historischer Forschung erinnern wir uns heute wieder an diese starke Frauenbewegung. Es gibt einzelne Frauengemeinschaften, die sich auf die Beginen beziehen. Sie gründen neue Beginenhöfe als Lebens- und Arbeitsgemeinschaften für Frauen um kollektiv, solidarisch zu leben und sich gegenseitig zu unterstützen.
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